Lernen in Netzwerken – 1

Wo Kommunikation stattfindet, lässt sich Lernen kaum vermeiden. Soziale Medien und das Internet erweitern unsere kommunikativen Möglichkeiten enorm. Nicht nur zu anderen Experten, auch zu anderen Wissensquellen haben wir heute leichten Zugang. Wissen wird daher immer mehr in Netzwerken erworben. Was ist anders beim Lernen in Netzwerken? Und was bedeutet das für uns Corporate Learning Professionals?

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Bild: Geralt, pixabay

Lernen in Netzwerken versus organisiertes Lernen

Traditionell wird Lernen assoziiert mit einem Lehrenden, der Wissen vermittelt und den Lernprozess gestaltet. Lernen findet dann statt, wenn der Seminartermin gekommen ist, oder das eLearning durchgearbeitet wird. Dabei ist das nur der ganz kleine Teil des betrieblichen Lernens, wie wir schon lange wissen. Das 70 : 20 :10 Modell verweist das gestaltete Lernen plakativ mit 10% auf den hintersten Platz. Also 90% des betrieblichen Lernens findet von den Lernenden selbstgesteuert statt. Dieser riesige Anteil wird auch kaum als Lernen wahrgenommen, jedenfalls fast nie als Lernen bezeichnet. Und wenn das so ist, dann sind Mitarbeiter ja echte Meister im Sich-Etwas-Selbst-Erarbeiten. Wie machen die das eigentlich?

Jede neue Herausforderung am Arbeitsplatz will bewältigt werden. Entweder man probiert es einfach, oder man fragt KollegInnen, oder man sucht nach Dokumenten, Büchern, oder anderen Wissensquellen, bis man sein aktuelles Problem gelöst hat – und entsprechend handeln kann. Das entspricht den 90% des Lernens im 70 : 20 : 10 Modell. Und das Ergebnis ist sogar bewiesene Handlungsfähigkeit oder anders ausgedrückt „Kompetenz“. Soweit kommen wir in unseren üblichen (10%-)Lehrsettings praktisch nie. Da enden wir beim Wissen, wie die unendliche Diskussion um den Arbeitsplatz-Transfer zeigt.

Eine schöne Erklärung dieses selbstgesteuerten Lernens (der 90%) bietet die Konnektivismus-Theorie von George Siemens. Das Wissen liegt im Netzwerk. Und Lernen ist die Fähigkeit, Verbindungen in diesem Netzwerk zu knüpfen. Das ist die ganz komprimierte Zusammenfassung der anschaulichen Theorie. Wobei George Siemens mit Netzwerk nicht nur die humanen Netzwerk-Knoten sieht, sondern auch alle anderen Punkte, wo Wissen abrufbar ist, also auch Bücher, Videos, … In dem Sinne findet das 90%-Lernen also in Netzwerken statt. Dass Mitarbeiter in Netzwerken lernen, ist nicht so neu. Durch Internet und soziale Medien ist nur die Zugänglichkeit der „Netzwerkknoten“ – auch zu den Experten – wesentlich leichter geworden.

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Bild: Rumpenhorst

Was ist anders beim Lernen in Netzwerken?

Im Vergleich zum angeleiteten Lernen:

  • „Selbststeuerung“ ist sicher der Haupt-Unterschied. Niemand anderes als der Lernende selbst, steuert und gestaltet seinen Wissensaufbau.
  • Nicht das Lernen steht im Vordergrund, sondern das Erledigen-Können. Oder anders ausgedrückt: Die Kompetenz. Das Lernen wird oft gar nicht bemerkt.
  • Weitgehend ungeplant, eher intuitiv gehen Lernende vor. Ein didaktisches Konzept ist nicht erforderlich.
  • Sehr wahrscheinlich wird das Lernen viel passgenauer sein, weil Lernende ihre Vorkenntnisse und ihre Ziele selbst einschätzen – und nicht in ein Zielgruppen-Schema gepresst werden.
  • Lernende bauen damit ganz nebenbei ihr persönliches Netzwerk aus. Aufs Lernen bezogen: Ihr persönliches Lern Netzwerk, PLN – das auch weiter genutzt werden kann.

Besonderheit:

  • In Netzwerken erhöht sich die Wahrscheinlichkeit der „Mehr-Perspektivigkeit“. Jeder zum Thema Beitragende bringt seine eigene Sichtweise aus seiner bisherigen Erfahrung ein. Damit kann man sich schneller ein vollständiges Bild zusammenbauen, als wenn man nur einem Referenten (mit nur einer Perspektive) folgt.

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Wo ist Netzwerk-Lernen schon öffentlich sichtbar?

Start_SICK-Wo_mooinBeim Corporate Learning 2.0 MOOC haben sich 1700 Corporate Learning Professionals 8 Wochen lang als Experten ausgetauscht. Es gab keine Lehrenden. In jeder Woche haben die Corporate Learning Experten eines Unternehmens eines ihrer aktuellen Projekte öffentlich zur Diskussion gestellt. Dabei haben alle gelernt. Hier ein kurzer Einblick .

Die Beispiele hier beschränken sich auf die öffentlich zugänglichen Lern-Netzwerke. In Unternehmen gibt es ungleich mehr davon. Social Intranets bilden in einigen Unternehmen die Infrastruktur für unternehmensweite Voneinander-Lern-Netzwerke. Interne Wikis zählen ebenfalls dazu. Die Bildung und Pflege interner Communities wird in etlichen Unternehmen als hilfreicher Beitrag zur Entwicklung der lernenden Organisation verstanden. Continental und Bosch sind hier gute Beispiele.

Gibt es Regeln fürs Lernen in Netzwerken?

Lernen in Netzwerken findet auf gleicher Augenhöhe statt, und ist eine Folge von Geben und Nehmen. Jeder im Netzwerk ist mal Gebender und mal Nehmender – auf Lernen bezogen: Mal Lehrender und mal Lernender. Die Rollen wechseln ständig. Das funktioniert nur auf der Ebene des „Erwachsenen-Ich“ (Transaktionsanalyse), also hierarchiefrei und wertschätzend im Umgang miteinander. Verantwortung ist hier verteilt: Gebende sind sich der Wirkung ihrer Aussagen ebenso bewusst, wie Nehmende ihr Bild selbst auf Stimmigkeit prüfen müssen.

Ich höre schon den Aufschrei „Aber dann kann sich ja auch Falsches verbreiten“. Ja, theoretisch schon. Netzwerke haben aber auch eine schnell korrigierende Wirkung, wie man es für Wikipedia ja bestens bewiesen hat: Wikipedia hat nicht mehr Fehler als die alten von Experten gestalteten Enzyklopädien – ist aber viel aktueller.

Wer Lernen in Netzwerken ermöglichen will, muss loslassen können. Fremdsteuerung zerstört Selbststeuerung. Das Zulassen von Netzwerk-Lernen erfordert eine Grundhaltung des „Zutrauens“, und des Vertrauens in die Selbststeuerungsfähigkeit der Mitarbeiter. Wer da zweifelt, strahlt das auch immer irgendwie aus. Dass man der Selbststeuerung trauen darf, beweisen die 90% informelles Lernen, das Mitarbeiter tagtäglich in Organisationen praktizieren. Die „Regel“ für Ermöglichen von Lernen in Netzwerken lautet: Loslassen, Zutrauen, Vertrauen.

Welche Rolle haben wir Learning Professionals fürs Lernen in Netzwerken?

Zunächst müssen wir alles loslassen, was wir in klassischen Lehr-Situationen praktizieren:

  • Wir gestalten keine Lern-Prozesse
  • Wir vermitteln keine Inhalte
  • Wir stellen keine Aufgaben
  • Wir bilden keine Lerngruppen

Wir können aber das Lernen in Netzwerken anregen, ermöglichen, erleichtern mit ganz anderen Lern-Dienstleistungen, z.B.

  • Communities of Practice anregen, beim Start unterstützen
  • Die Infrastruktur fürs Lernen in Netzwerken bereitstellen, z.B.
    • Wikis bereitstellen
    • Interne soziale Netzwerke bereitstellen
    • Austauch-Veranstaltungen organisieren (BarCamps, OpenSpace, Stammtische)
    • Unterstützung für Podcast-Erstellung, Video-Erstellung bereitstellen
    • Unterstützung für alle Arten von Wissensaufbereitung anbieten
  • Das Auswählen und Kuratieren von bestehendem Lern-Material zu häufig nachgefragten Themen
    • Aus Youtube
    • Aus TED-Talk
    • Aus Hochschulen
    • Aus MOOCs
    • Aus zugänglichen Communities
    • Aus zugänglichen Veranstaltungen
    • ….
  • Das Begleiten von einzelnen Lernenden
    • Klären der persönlichen Entwicklungsziele
    • Mehrere Wege dorthin vorschlagen (Bücher, Videos, Communities, …)
    • Aus der Beobachtung anderer Lernender ableiten: Andere waren auf diesen Wegen erfolgreich
    • Meilenstein-Gespräche anbieten
    • Trigger-Services anbieten, z.B. Jede Woche Dienstag um 17.00 kurz anrufen um Stand zu klären
    • Zielerreichungs-Bestätigung anbieten (Zertifikat, am besten Kompetenznachweis nach erfolgreichem Handeln im Job anbieten)

Die Rolle als individueller Lern-Begleiter ist die ursprüngliche pädagogische Aufgabe, die damit wieder in den Vordergrund rücken kann – wenn Lernende das wünschen. Selbstgesteuert Lernende wählen selbst aus, was Ihnen hilfreich erscheint, und was nicht. Sie sind dann der Auftraggeber für uns Lern-Dienstleister, den sie wählen und auch wieder abwählen können. Wir stehen dabei auf keinen Fall über den Lernenden. Gleiche Augenhöhe ist auch hier der Schlüssel für diese spannenden neuen Lern-Dienstleistungen. Das erfordert ein neues Selbstbewusstsein der bisher Lehrenden, das ja jetzt nicht mehr Kraft Amtes gestützt wird. Und viel schwieriger noch: Eine andere innere Haltung zu Lernenden, denen man zutraut, dass sie das auch allein schaffen werden.

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Wie kommen wir Learning Professionals am besten dahin?

Wer Lernen in Netzwerken anregen und unterstützen will, muss selbst Experte im Netzwerk-Lernen sein! Ich habe den Eindruck, da sind uns viele Mitarbeiter in Unternehmen schon weit voraus. Der Vorsprung ist aber noch aufholbar. Starten Sie ganz bewusst – jetzt – Ihre eigene Entwicklung durch das Mitmachen in einer für Sie relevanten Community. Es beginnt meist mit dem Mitlesen, was und wie andere schreiben. Dann traut man sich an erste Kommentare, bis man selbst Erst-Beiträge schreibt. Sie werden erleben, was das öffentliche Schreiben mit Ihnen macht. Wo dass das anspornt und wo das intensiver nachdenken lässt – und welch überraschende Wirkung das Netzwerk auf Sie hat. Nur durch das persönliche Erleben werden Sie kompetent fürs Netzwerk-Lernen. Nur theoretisch können Sie das nicht erfassen.

Wer auf 140 Zeichen konzentrieren möchte (ist sehr lehrreich) kann gut mit Twitter starten. Eine Einstimmung dazu finden Sie hier.

Wer auf sozialen Medien starten möchte findet oben etliche Links. Mein Favorit ist die Corporate Learning Community auf Google+.

Wer offline Community-Lernen praktizieren will, kann das hier oder hier tun. Oder auch beim CorporateLearningCamp an 2 Tagen.

Die neun Fragen an Learning Professionals von Hans de Zwart aus 2012 geben auch heute noch eine gute Orientierung für die eigene Neu-Ausrichtung. Viel Erfolg bei der Entwicklung zum Netzwerk-Lern-Experten! (Die ja auch nie aufhört).

38 Gedanken zu „Lernen in Netzwerken – 1“

  1. Hat dies auf #GEcamp16 am 18. und 19. November 2016 rebloggt und kommentierte:
    Karlheinz Pape wird das GEcamp16 nicht nur moderieren, sondern auch eine Session zum „Lernen in Netzwerken“ anbieten. Hier sein sehr interessanter Artikel dazu:

  2. hallo karlheinz, das ist sehr schön zusammengefasst. ich stimme weitestgehend zu, aber eine sache ist mir gerade klarer geworden: es ist, glaube ich, ein fehler, das „authentische selbstlernen“ lernen immer mit nicht-angeleitetem lernen gleichzusetzen. das ist glaube ich ein kurzschluss, der einen irreführenden gegensatz aufbaut.

    ich denke, es ist eher so, dass „selbstlernen“ IMMER die grundlage ist, und zwar erst mal unabhängig davon ist, auf welche szenarien es trifft. auch in angeleiteten kontexten funktioniert eigentlich, wenn man genau hinschaut, lernen so (oder halt nicht). die leute gehen IMMER selbstgesteuert an die sache heran. natürlich kann man sie dabei blockieren oder hindernisse aus dem weg räumen … oder auch hilfestellung geben.

    und sie treffen dabei eben IMMER auf mehr oder weniger struktur, hilfe, 360-grad-perspektiven … das passiert grundsätzlich auch beim arbeitsplatz-lernen („performance support“ usw.). es wäre da, glaube ich, vielleicht besser, wenn wir uns von dem eigentlich nur sekundären gegensatz „freies selbstlernen“ vs. „angeleitetes lernen“ lösen und zuerst auf die realen lernprozesse der lernenden schauen, die vielfältige ausgangspunkte, bedürfnisse usw. haben. das wäre dann quasi die perspektive des „learner experience design“.

    1. Danke für Deinen Hinweis Martin. Das sehe ich auch so: Lernen ist immer ein selbstgesteuerter Prozess – auch wenn wir Learning Professionals uns das gern anders einbilden. Wir sollten das auch mehr betonen. Wenn das mal akzeptiert ist, dann eröffnet sich ein viel weiterer Raum für Lern-Dienstleistungen, die man Lernenden anbieten kann.

  3. hallo karlheinz, das ist sehr schön zusammengefasst. ich stimme weitestgehend zu, aber eine sache ist mir gerade klarer geworden: es ist, glaube ich, ein fehler, das „authentische selbstlernen“ lernen immer mit nicht-angeleitetem lernen gleichzusetzen. das ist glaube ich ein kurzschluss, der einen irreführenden gegensatz aufbaut.

    ich denke, es ist eher so, dass „selbstlernen“ IMMER die grundlage ist, und zwar erst mal unabhängig davon ist, auf welche szenarien es trifft. auch in angeleiteten kontexten funktioniert eigentlich, wenn man genau hinschaut, lernen so (oder halt nicht). die leute gehen IMMER selbstgesteuert an die sache heran. natürlich kann man sie dabei blockieren oder hindernisse aus dem weg räumen … oder auch hilfestellung geben.

    und sie treffen dabei eben IMMER auf mehr oder weniger struktur, hilfe, 360-grad-perspektiven … das passiert grundsätzlich auch beim arbeitsplatz-lernen („performance support“ usw.). es wäre da, glaube ich, vielleicht besser, wenn wir uns von dem eigentlich nur sekundären gegensatz „freies selbstlernen“ vs. „angeleitetes lernen“ lösen und zuerst auf die realen lernprozesse der lernenden schauen, die vielfältige ausgangspunkte, bedürfnisse usw. haben. das wäre dann quasi die perspektive des „learner experience design“.

    1. Danke für Deinen Hinweis Martin. Das sehe ich auch so: Lernen ist immer ein selbstgesteuerter Prozess – auch wenn wir Learning Professionals uns das gern anders einbilden. Wir sollten das auch mehr betonen. Wenn das mal akzeptiert ist, dann eröffnet sich ein viel weiterer Raum für Lern-Dienstleistungen, die man Lernenden anbieten kann.

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