Laut Jane Hart ist Twitter schon im siebenten Jahr ununterbrochen auf Platz 1 unter den 100 besten Learning Tools. Auch in 2015 kürten 2000 Learning Professionals wieder Twitter auf den ersten Platz. Was ist es, was Twitter zum Learning-Tool macht? Und warum nutzen es dann so wenige Weiterbildungs-Profis in Deutschland?
Noch nicht einmal auf deutschen Konferenzen für Weiterbildner empfehlen viele Veranstalter einen Twitter-Hashtag, auch Twitterwalls sieht man dort noch selten. Twitter und Lernen, das passt offenbar für viele noch nicht zusammen. Das war bei mir auch so – bis mich Lutz Berger beim ersten KnowledgeCamp 2009 mit dem Satz erstaunte „Den Livestream verfolgen derzeit mehr Leute, als hier in der Session sitzen.“ Wir wussten damals nicht, dass Lutz Berger das Geschehen einiger Sessions live ins Internet streamen würde, haben das deshalb auch nicht ankündigen können. Er hat den Link während des Camps per Twitter verbreitet, und damit hat sich die Session-Teilnehmerzahl spontan mehr als verdoppelt. Ein wenig später meldete sich ein anwesender Session-Teilgeber und sagte dem Session-Geber, er habe hier einen Tweet zu seinen Aussagen bekommen. Damit wurde der Tweet – und der Twitterer – ein Teil der Session. Mir wurde als Veranstalter schlagartig klar, welch massive Wirkung Twitter auf die Teilnehmer eines Lernevents haben kann. Ich startete sofort mit einem eigenen Twitter Account.
Mein Twitter-Anfang war ganz entspannt: Nur neugierig lesen, was andere schreiben. Noch auf dem Camp habe ich mich umgehört, wem ich denn folgen solle. Mein Interesse war ja rein beruflich, und Wissensmanagement gehört in jedem Fall dazu. Ich folgte so zwischen 10 bis 20 Experten mehrere Monate lang. Nun schreiben die meisten ja nicht täglich, andere dafür umso mehr. Es gab also immer ein paar Neuigkeiten aus dem Wissensmanagement. Mir fiel auf, dass viele Tweets nur kurz ein Thema anrissen und einen Link für weitere Informationen angaben. Das führte öfter auch auf einen eigenen Blog. Einerseits die nur 140 Zeichen auf Twitter für die kurze Übersicht und andererseits die ausführliche Darstellung – das schien mir so ähnlich wie das Zeitunglesen. Dort überfliege ich ja auch immer erstmal die Überschriften, und nur bei einigen bleibt man hängen und liest den Artikel darunter. Und wie bei einer Zeitung reicht es oft für die eigene Orientierung, nur die Überschriften gelesen zu haben. Und da sich die 140 Zeichen nicht erweitern lassen, muss jeder Schreibende auf den Punkt kommen, den Extrakt liefern, wenn er etwas vermitteln will. Das war mir von Anfang an sympathisch.
Immer nur lesen?
Irgendwann meldete sich mein Gerechtigkeitsempfinden: Du kannst nicht nur immer nehmen, du musst auch mal geben. Also wagte ich meine ersten Tweets. Und plötzlich bekam ich von Twitter per Mail die Nachricht, dass mir Leute folgen – Unbekannte und nur wenige Bekannte. Die Zahl der Follower stieg mit meinen eigenen Tweets. Sogar große Experten wollten auf einmal lesen, was ich schreibe. „Jetzt gib Dir Mühe, keinen Unsinn zu schreiben“ war mein Gedanke. Öffentliches Schreiben verlangt mehr Reflexion als eine nur für mich selbst gemachte Notiz. Man vergewissert sich mehr, ob das denn auch wirklich so ist, prüft eher mal nach, sucht die Quelle noch einmal auf. Schließlich will man sich ja auch nicht blamieren.
Auch bekam ich Antworten und Kommentare zu meinen Tweets. Manchmal (aber selten) entstand auch eine richtige Twitter-Konversation – immer nur in jeweils max. 140 Zeichen. Irgendwann begann ich, meine Notizen auf Konferenzen als Tweets zu schreiben. Das ist mehr Herausforderung als normales Mitschreiben, schließlich muss man jede Aussage in 140 Zeichen fassen. Die Aussagen des Redners sind oft länger. Man muss also selber konzentrieren, auf den Punkt bringen – selber über das Gesagte nachdenken. Wie beim Mitschreiben im Studium damals, dachte ich zunächst, Zuhören und kurzgefasst schreiben – beides geht nicht. Aber mit ein wenig Übung geht es dann doch. Heute fällt mir auf, dass ich an der Menge meiner Tweets bei einem Vortrag ablesen kann, wie viel Interessantes Neues für mich dabei war. Es gibt Vorträge, da kann ich ständig Tweeten, und andere, da fällt mir kein einziger Tweet ein.
Dann wollte ich auch mal ausführlicher schreiben. Das geht nur auf dem eigenen Block. Das „Micro-Bloggen“ auf Twitter machte mich erst mutig, auch einen eigenen Blog (diesen hier) zu starten. Jetzt begann ich meine Blogposts auf Twitter anzukündigen, die Kurzaussage dort zu posten mit dem Link zum Blog-Artikel. Ich hatte ja bei anderen gesehen, wie gut sich Twitter und Blog ergänzen. Oder: Twitter für die Überschriften und im Blog den langen Artikel. Aber bei weitem nicht jeder Tweet erhält eine Link zum eigenen Blog, das lassen schon die Zahlen erkennen: Über 6000 Tweets und rund 140 Blogposts bis heute.
Was hat das alles mit Lernen zu tun?
Twitter als Fach-Nachrichten-Kanal:
Twitter kann man auch als Zeitung zu einem Fachgebiet verstehen. Vorausgesetzt man folgt den Experten aus diesem Fachgebiet. Die kann man als Redakteure verstehen, die mit ihren Tweets auswählen, was sie für wesentlich halten. Und wer genügend vielen Experten (Redakteuren) folgt, kann einigermaßen sicher sein, dass er alle wichtigen Infos aus dem Fachgebiet erhält. Mit der Auswahl derer, denen man folgt, stellt man sozusagen seinen persönlichen sozialen Filter ein. Auf diesen Filter kommt es an. Den kann man aber ständig optimieren („Entfolgen“ und anderen folgen), das hat man selbst in der Hand. Darauf höre ich immer wieder: Dann sind das ja alles subjektive Stimmen, die einen auch in die falsche Richtung lenken können. Ja, das stimmt. Das ist bei einer Fachzeitschrift aber auch nicht anders. Nur dass dort meist nur ein Redakteur die Auswahl trifft. Und bei Twitter kann man sich beliebig viele, auch unterschiedliche Experten als Redakteure leisten.
Öffentliches Schreiben als Reflexions-Anreger
Das Verfassen von Tweets ist öffentliches Schreiben. Niemand will sich blamieren, deshalb wird jeder ganz selbstverständlich einmal mehr darüber nachdenken, ob das haltbar ist, was er hier schreibt, wo die Quelle ist, vielleicht sogar den zu empfehlenden Link suchen. Ein wesentliches Element von Lernen ist die Reflexion: Beim Schreiben von Tweets läuft die fast unbemerkt ganz nebenbei. Und was man sich mal aufgeschrieben hat, braucht man oft gar nicht mehr lesen hinterher, das hat man dann im Kopf. So geht es mir mit meinen Mitschrift-Tweets bei Konferenzen.
Erst wenn man es erklären kann, hat man es auch verstanden
Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass man über das Micro-Blogging zum echten Blog-Schreiben kommt. Beide Ausdrucksformen haben diesen Erklärungs-Charakter. Jeder will sich beim öffentlichen Schreiben verständlich ausdrücken, so dass andere mit dem eigenen Beitrag auch etwas anfangen können. Die schriftliche Form ist da sogar die verbindlichere, gegenüber dem Sprechen. Sie lässt ja auch mehr Zeit zum Durchdringen des Themas. Während das Tweeten auf den Punkt zu kommen fordert, erlaubt (und fordert) das Blog-Schreiben mehrere Gedanken im Zusammenhang darzustellen. Beide Beschäftigungen mit einem Thema lösen unweigerlich Lernen aus.
Twitter ersetzt mir heute alle Fachzeitschriften
Inzwischen folge ich über 200 Experten, und ich fühle mich besser informiert, als früher mit den einschlägigen Fachzeitschriften. Fast Täglich überfliege ich die „Überschriften“ und bei etwa jedem 30. Tweet bleibe ich hängen und folge dann ggf. dem angebotenen Link. Aber alles lesen zu wollen, was in meiner Timeline auftaucht, wäre unmöglich. Das nehme ich mir auch gar nicht vor. Auch das ist wie in einer Zeitung: Wer aus dem Urlaub zurückkommt. liest ja auch nicht alle inzwischen erschienenen Ausgaben. Und auch täglich liest man nur, wofür man gerade Zeit und Interesse hat.
Alles was dreimal in meiner Timeline erscheint, ist wohl wichtig und sollte ich lesen, denke ich mir. Ich vertraue da dem Spruch eines unbekannten Bloggers aus 2008: Wenn eine Information wichtig ist, wird sie mich finden!
Zusammenfassung:
Twitter ist aus meiner Erfahrung tatsächlich ein Lern-Booster. Die Auswahl der Experten, denen ich bei Twitter folge, bestimmt meinen sozialen Informationsfilter. Im Bereich Bildung / Weiterbildung tweeten fast alle wichtigen Experten, so dass Twitter als Nachrichtenkanal im Fachgebiet gut genutzt werden kann. Das öffentliche Schreiben von Tweets fördert die Reflexion über das Thema, was Lernen ganz automatisch auslöst. Twitter ist eine einfache Form des Bloggens mit niedriger Einstiegshürde (man braucht nur max. 140 Zeichen füllen).
P.S.: Oft höre ich das Argument, auf Twitter werde ja nur Belangloses geschrieben, z.B. was jemand gerade gegessen hat. Dazu noch zwei Anmerkungen: Erstens braucht man denen ja nicht folgen, und zweitens sollten wir darüber nicht urteilen. Es gibt Menschen, die nutzen Twitter um ihre Beziehungen zu anderen zu pflegen. Inhalte stehen dabei nicht im Vordergrund. Von außen betrachtet, ist das Pflegen der eigenen Community (Familie, Freunde, Kollegen, …) wichtiger als die Inhalte. Die Inhalte sind flüchtig und austauschbar, die Community aber muss beständig sein.
Nachtrag (05.01.2016): Hier sind 9 gut passende Tipps der Edutrainment Company, wie man Twitter zum Lernen einsetzen kann.
Ergänzung am 17.09.2019:
Den ganzen Inhalt dieses Blogposts hat YouKnow in einem 2-Minuten Video schön zusammengefasst:
Selbst die Unesco sieht Twitter als Toll zum Lehren und Lernen. Hier eine Veröffentlichung von Twitter mit der Unesco dazu.
Wie man Twitter-Chats plant, hat Oliver Ewinger hier ausführlich beschrieben.
Nachtrag 30.5.2020: Stephanie Braun hat hier beschreiben, warum persönliche Notizen als Tweets auf Veranstaltungen zum Lernen nützlich sind.
Herzlichen Dank,
und wieder etwas dazu gelernt.
LG
wolle
Danke!
Wir würden gerne unseren Twitter-Hashtag #GESSlearns im Lehrerzimmer via Twitter Wall veröffentlichen. Haben Sie eine Empfehlung für eine gute Twitter-Wall-Application? Danke!
Seit alle ihr Handy in der Tasche haben, und den Hashtag abonnieren können, hat die Twitterwall ihren Reiz für mich verloren. Aber wenn man die zeigen will, ist https://walls.io/ ganz gut. Wenn es nur um einen Hashtag geht, ist das sogar kostenlos.
Danke, sehr schöner Beitrag! Besonders der Vergleich mit einer persönlichen Redaktion gefällt mir, und ich kann das nur bestätigen. Man muss vielleicht aufpassen, dass man seine Filterblase nicht zu undurchlässig macht, aber das hat man ja selbst in der Hand — sofern alle „Pole“ auch auf Twitter zu finden sind.
Danke, sehr schöner Beitrag! Besonders der Vergleich mit einer persönlichen Redaktion gefällt mir, und ich kann das nur bestätigen. Man muss vielleicht aufpassen, dass man seine Filterblase nicht zu undurchlässig macht, aber das hat man ja selbst in der Hand — sofern alle „Pole“ auch auf Twitter zu finden sind.