Derzeit versuchen viele Weiterbildungs-Organisationen und –Abteilungen „Lerner-Communities“ zu bilden. Berichte von großen MOOC, bei denen sich Lernende in Foren austauschen, und bei den sogenannten cMOOC sogar die meisten Inhalte selbst beisteuern, regen dazu an, Lerner-Communities auch in andere Lehr- und Lernsettings einzubauen. (cMOOC nach dem Konnektivismus-Modell von George Siemens und Stephen Downes). Damit beginnt dann meist der Frust.
Praktisch keiner macht mit, die ersten Beiträge stammen vom Trainer, nach 3 Wochen gibt es vielleicht mal eine Frage eines Teilnehmenden im Forum. Das wollen unsere Lernenden nicht, ist die schnelle und scheinbar stimmige Schlussfolgerung. Man fühlt sich im alten Vorgehen bestätigt: Neuerungen werden ja nicht angenommen.
Eigenartig nur, dass es im Internet eine unüberschaubare Menge Fach-Communities gibt, in denen sich Menschen intensiv austauschen, ohne sich jemals gesehen zu haben – und das auch über längere Zeiträume hinweg. Das sind Lern-Communities. Aus welchem Grund sonst macht sich jemand die Mühe dort regelmäßig zu lesen oder gar zu posten, wenn es nicht seiner eigenen Entwicklung dienen würde? Lern-Communities sind also ein Erfolgsmodell – warum dann nicht in Bildungs-Organisationen?
Zur Klärung dieser Frage ist es hilfreich, sich die Rahmenbedingungen und Besonderheiten solcher Internet-Communities genauer anzuschauen.
- Keine Steuerung, ausschließlich Selbstorganisation:
Zunächst fällt auf, es gibt keine Steuerungsinstanz in solchen Communities. Jeder Beitrag, jeder Kommentar entsteht aus Eigeninitiative. Selbst das Bilden einer neuen Community kann jederzeit von Jedem begonnen werden.
- Einer schreibt, 9 kommentieren und 90 lesen:
Nielsen hat diese Regel 2006 aus der Analyse des Nutzerverhaltens in Foren entdeckt. Wenn gewöhnlich nur Einer von Hundert einen neuen Beitrag einbringt, brauchen Communities schon eine gewisse kritische Mindestgröße, um überhaupt zu einer lesenswerten Anzahl von Beiträgen zu kommen. Und wenn beim nächsten Community-Besuch nichts Neues zu sehen ist, dann werden auch die Besuche der vielen Leser immer seltener.
Oft werden die vielen Nur-Lesenden mit einem abwertenden Urteil versehen: „Die sind ja nicht aktiv“. Dabei sind es gerade die Vielen, die nötig sind, damit der eine Schreibende auch ein interessiertes Publikum hat. Ohne die würde der sich auch nicht die Mühe machen. Die Lesenden sind für Communities genauso wichtig wie fürs Theater die Zuschauer, oder für die Zeitung die Leser.
- Wertschätzender Umgangston, sonst schreibt keiner:
Es fällt auf, dass in den Fach-Communities ein so wertschätzender Umgangston herrscht, wie wir es in der direkten Gesprächskommunikation gar nicht kennen. „Dein Beitrag hat mit wirklich gut gefallen“ ist eine typische Äußerung, wie sie hier dauerhaft in Kommentaren und Antworten von anderen Community-Mitgliedern hinterlegt wird. Dieser wertschätzende Umgang scheint mit zur „Nahrung“ für funktionierende Communities zu gehören. Man stelle sich das Gegenteil, nur verletzende oder negativ bewertende Kommentare vor: Warum sollte man dann weiter in der Community schreiben? (Vielleicht ist das Grund, warum Politiker sich so schwer tun, mit Beiträgen im Social Web.)
- Gleiche Augenhöhe: Egal ob Professor oder Schüler, nur die Beiträge zählen:
Das scheint von allen das interessanteste Phänomen in Communities zu sein: Man weiß ja gar nicht, mit wem man es zu tun hat. Nur die Beiträge sind sichtbar / erlebbar. Alle gesellschaftlichen Grenzen, alle Hierarchien sind in Communities zunächst aufgehoben. Keine Titel, keine Funktionen sind wirksam (und meist auch nicht erkennbar). In sehr langlebigen Communities entstehen dann allerdings wieder Hierarchien: Ja nach Anerkennung ihrer Beiträge steigen Einzelne dann im Laufe der Zeit zu informellen Leadern mit Einfluss auf die anderen auf. Das kennzeichnet aber auch schon ein wenig das Ende des Lebenszyklus einer Community, wie Bert Schulzki von Motor-Talk auf dem Community Camp mal dargestellt hat.
- Immun-System von Communities: Mitglieder mahnen korrektes Verhalten an:
Dieses völlig selbstorganisierte System „Community“ entwickelt sogar intuitiv Abwehrmechanismen gegen System-Bedrohungen. Im Falle von im Ton unpassenden Äußerungen anderer Community-Mitglieder entstehen deutliche korrigierende Reaktionen anderer Mitglieder, die in den meisten Fällen eine „selbstheilende“ Wirkung haben. Wenn das mal nicht mehr helfen sollte (ganz seltener Fall), dann wird es für Community-Mitglieder schwierig, ein Mitglied auszuschließen, um die Community zu retten. In diesen Einzelfällen sind offiziell eingesetzte Community-Manager dann die Eskalations-Instanz, die einen Ausschluss umsetzen kann.
Abgesehen von diesen ganz wenigen kritischen Fällen, ist es erstaunlich, wie die Immun-Abwehr in Communities funktioniert – ohne dass jemand das in irgendeiner Wiese organisiert hat.
Das Prinzip „Selbstorganisation“ ist so mächtig und wirkungsvoll, dass man sich fragen muss, warum wir das nicht viel öfter nutzen. Selbstorganisation darf nicht organisiert werden! Jeder Eingriff von außen, jede Steuerung von Fremden ist ein empfindlicher Eingriff mit oft nicht-kalkulierbaren Folgen, wie Community-Manager meist schon schmerzhaft erfahren haben. Trotzdem ist es möglich Communities anzuregen und unterstützende Rahmenbedingungen zu schaffen und zu pflegen. Das nutzen Unternehmen, die eine eigene Experten- oder Fan-Community aufbauen oder pflegen wollen.
- Obwohl Communities selbstorganisiert sind: Community-Manager können positiv unterstützen, z.B. durch
– Aufmerksam machen auf interessante Beiträge
– Anregen der Diskussion durch Stellen relevanter Fragen
– Interesse wecken zum Mitmachen bei weiteren Experten
– als Überwachungsinstanz zum Einhalten der Community-Regeln.
Community-Manager bekommen von Unternehmen zwei Zielsetzungen: Die Zahl von Community-Mitgliedern soll steigen, und die Interaktionen innerhalb der Community sollen anwachsen.
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Community-Manager haben damit eine Führungsaufgabe – praktisch ohne Sanktionsmöglichkeiten:
Sie können nur durch positive Verstärkung „führen“. Führen bedeutet hier aber nicht fachlich führen, sondern die Community anregen, stärken. Interventionen von Community-Managern dürfen das Selbstorganisationsprinzip nicht stören. Community-Manager haben damit einen Führungsjob unter extremen Bedingungen, eigentlich können sie nur das Community-Klima pflegen und die eine oder andere Anregung geben (wie jeder andere in der Community auch) – also positiv unterstützen. Die einzige Sanktionsmöglichkeit, der Ausschluss eines Mitgliedes, will gut überlegt sein, weil man nie weiß wer sich von den Community-Mitgliedern mit dem Ausgeschlossenen solidarisiert. Schließlich ist das auch der extremste Eingriff in das sonst geltende Selbstorganisations-Prinzip.
Warum sind Lern-Communities dann so schwierig?
Unsere üblichen Lehr- und Lernsettings, steuern Lernende auf einen vorbestimmten Lernweg. Selbstorganisation haben Bildungsorganisationen und Weiterbildungsabteilungen beim Lernen i.d.R. nicht vorgesehen. Meist wird das stringente Durchlaufen und Wiedergeben aller vorgegebenen Lern-Module mit dem Erfolgs-Zertifikat belohnt. Erwachsene Lernende haben optimale Strategien gefunden, um mit vertretbarem Aufwand das vorgegebene Lern-Ziel zu erreichen. Wenn dann eine zusätzliche Lern-Community angeboten wird, dann bedeutet, dass für die Lernenden einerseits zusätzlichen Aufwand, und andererseits haben Bildungs-Anbieter auch nicht das Image echte Selbstorganisation zuzulassen. Die Aufforderung zur Beteiligung an einer Lern-Community wirkt dann wie eine zusätzliche Aufgabe, die man zu erfüllen hat.
Und tatsächlich gibt es eine Reihe von Berichten über erzwungene Lern-Communities, bei denen innerhalb eines Curriculums mehrere Forenbeiträge und eine Mindestzahl von Kommentaren eingefordert wird. Das sind dann eher virtuelle Gruppenarbeiten, als Lern-Communities.
(Lern-)Communities?
Jede Fach-Community ist eine Lern-Community, siehe oben. Es macht also gar keinen Sinn, das Lernen besonders zu betonen. Und eine Community mit ausschließlich „Neu-Lernern“ ist ja auch ziemlich uninteressant, weil die voneinander noch gar nicht viel lernen können. Communities leben ja von der Beteiligung der Experten, von den vielen Perspektiven, die die einzelnen Mitglieder einbringen, als Neulinge und als Erfahrene. Deshalb kann es eigentlich nur „Communities“ geben, und keine „Lernenden-Communities“.
Sich darauf einzustellen wäre für Weiterbildungsabteilungen weitsichtig, weil es eine andere Form betrieblichen Lernens fördert – auch wenn nicht auf den ersten Blick ersichtlich wird, dies ist eine Maßnahme der Bildungsabteilung. In den Unternehmen regelt sich das aber ohnehin: Wenn nicht die Learning-Professionals solche Fach-Communities fördern, werden es die Wissensmanager tun, oder die Mitarbeiter selbst. Selbstorganisation funktioniert ja auch innerhalb hierarchischer Organisationen.
Sehr guter und wichtiger Beitrag, der den aktuellen Stand auf den Punkt bringt.
Wenn die beiden zentralen Erfolgsfaktoren, nämlich echtes Interesse des Community-Mitglieds und Motivations-/Coaching-Skills auf Seiten des Learning Professionals vorliegen ist alles gut. Aber, wie wecke ich das Interesse für neue, wichtige oder schwierige Themen? Ist der Bedarf an Wissen ausschlaggebend? Muss ein bestimmter Reifegrad vorliegen? Wenn ja, wie stelle ich den fest? Welche vorbereitenden (Trainings-)Maßnahmen sind notwendig? Welche Formate sind möglich?
Danke für den Kommentar, Astrid Tietgens. Die Frage, wie motiviere ich jemanden für das Mitmachen in einer Community scheint mir falsch gestellt. Ich würde das so ausdrücken: Was kann ich tun, um die Community so attraktiv zu machen, dass man unbedingt dabei sein will. Das scheint mir der wesentliche Unterschied zum üblichen planenden und anordnenden Denken in Unternehmen. Selbstorganisation als Prinzip beginnt natürlich schon bei der freien Entscheidung zum Mitmachen oder Wegbleiben. Auch denke ich, dass es keines besonderen Trainigns bedarf um in internen Social Media-Systemen mitzumachen. Die etwa 27 Millionen Facebook-Nutzer in Deutschland brauchten ja auch kein Training, um dort mitzumachen.