Lerner Services – der Mehrwert künftiger Lern-Events?

„Content ist King“ – an dieses Motto der Learning-Branche in den späten 90er Jahren  kann ich mich noch gut erinnern. Sucht man diesen Slogan heute, stößt man auf Suchmaschinen-Optimierer, die das ihren Kunden predigen. In der Learning-Branche scheint dieser Satz inzwischen so selbstverständlich, dass man nicht mehr drüber reden muss. Die Darstellung des zu lernenden Stoffes ist nach wie vor der Hauptinhalt der meisten betrieblichen Trainings, oft ergänzt durch ein paar Übungen oder Diskussionen. Diese ausführliche Inhaltsdarstellung ist es auch, die den Hauptteil der Trainings-Vorbereitung beansprucht. Schließlich erarbeitet man ja die erklärende Inhaltsabfolge für einen typischen Lernenden der Trainings-Zielgruppe. Und dieser Lernende aus der Vorstellungswelt des Trainings-Entwicklers brauche eben diese spezielle Stoffaufbereitung, um das auch aufnehmen und verstehen zu können. Für eine andere Zielgruppe müsse der Inhalt auch in anderer Weise dargestellt werden. Nicht selten entsteht dabei so etwas wie ein neues Buch, das man hier aber Trainingsdokumentations-Ordner nennt.

Gar nicht abstreiten möchte ich, dass in dieser Art der zielgruppenspezifischen Inhaltsaufbereitung auch schon viele didaktische Elemente des ganzen Kurses eingearbeitet werden. Meine Zweifel habe ich am „typischen Lernenden der Zielgruppe“. Aus meiner Erfahrung kam der noch nie ins Training. Da kamen ganz andere, mit mehr oder mit weniger Vorkenntnissen, oder mit ganz anderen Zielen als denen des „Typischen“. Das kennen alle Lehrenden, jetzt muss man da durch, ein paar Abweichungen vom Skript gehen schon, aber insgesamt muss man ja das Leistungsversprechen der Kursbeschreibung erfüllen.

Wir investieren viel Zeit und Aufwand in die Inhaltsaufbereitung vor dem Training, und verwenden im Training wieder viel Zeit für die anschauliche Inhalts-Darstellung. Dabei sind Vorbereitung und Darstellung überhaupt nicht so passgenau, wie wir das immer argumentieren. Teilnehmer sind trotzdem zufrieden – so kennen sie das aus allen Trainings, das scheint ja nicht anders möglich zu sein.

Gäbe es noch keine Trainings-Gewohnheiten, und wir sollten ein allererstes Training konzipieren, würden wir vermutlich zwei verschiedene Trainings-Leistungen planen:

  • Die Lieferung eines möglichst leicht verständlichen Inhalts
  • und eine Unterstützung beim persönlichen Erarbeiten des Stoffes.

Die Unterstützung des Lernenden beim individuellen Erarbeiten erschiene uns vermutlich als die schwierigere Aufgabe, zumal ja gar nicht klar ist, welche Lernenden welche Unterstützung brauchen werden. Deshalb würden wir uns dafür die meiste Zeit im Training reservieren – auch wenn noch nicht ganz klar ist, was wir im Einzelnen für die Lerner tun können. Damit würden wir die Priorität bei der Lerner-Unterstützung setzen, und nicht bei der Inhaltsdarstellung. Die Inhalte müssten wir zwangsläufig möglichst aufwandsarm ins Training integrieren.

Aufwand für Inhalts-Vermittlung reduzieren?

Wenn unser typischer Zielgruppen-Vertreter doch nie kommt, und unsere bisherige Inhaltsaufbereitung auch nicht so treffsicher ist, dann genügt ja vielleicht auch weniger Anpassungsaufwand für den Content. Möglicherweise gibt es ähnlichen Content schon gut beschrieben aus anderen Quellen. Bei technischen Kursen könnten bestehende Wartungs-Handbücher oder Produkt-Dokumentationen genutzt werden. Ich wage zu behaupten, zu fast jedem Trainings-Thema gibt es genügend gut aufbereitetes Lern-Material, das man Teilnehmern zur Verfügung stellen kann – man müsste es nur finden.

Eine Variante von gut nutzbarem Lernmaterial findet man unter dem Begriff „Open Content“ im Internet. Kostenlos und für jedermann verfügbar, stellen immer mehr Bildungsorganisationen ihren aufbereiteten Lern-Content ins Netz. Schon 2001 begann das bekannte MIT damit, die Vorlesungen generell dauerhaft im Netz verfügbar zu machen. MITOPENCOURSEWARE ist nur ein erstes Beispiel dafür, etwa 200 weitere Universtäten folgten und dokumentierten damit, dass es nicht der Inhalt ist, der uns ausmacht. Wenn es nur der Inhalt wäre, bräuchte man ja nur noch die Bibliothek! Interessant dabei ist, dass gerade das teure MIT (55.000 $ je Student in 2011/12) damit begann, alle Welt an den hochkarätigen Vorlesungen teilhaben zu lassen. Das Geschäftsmodell hat darunter ganz offenbar überhaupt nicht gelitten – was nur beweist, es geht nicht um den Content in Bildungsorganisationen. Die Gespräche auf dem Campus, die Community, die zu erledigenden Aufgaben und Projekte, der Kontakt zu den Experten – und natürlich das Abschluss-Zertifikat – machen das Lernen hier so attraktiv, dass Studenten dafür so viel Geld zahlen.

Inzwischen gibt es eine unüberschaubare Menge gut aufbereiteten Lern-Contents, auch von anderen Organisationen und Experten im Netz, Tendenz steigend. Die Wahrscheinlichkeit nimmt zu, dass auch für Ihr Training schon heute, oder demnächst gut aufbereitete Lerninhalte im Netz bereitstehen. Selbst wenn Sie das Material nicht nutzen, werden Ihre Lernenden das irgendwann auch finden, und selbst beurteilen, ob sie wegen des Inhalts noch in Ihr Seminar kommen werden. Da entsteht eine Inhalts-Darstellungs-Konkurrenz ganz offen im Netz, und jeder Lehrende sollte sich fragen „Kann ich das eigentlich besser darstellen?“. Wenn nein, dann wäre es ja für die Lernenden besser, man empfiehlt ihnen diese Netz-Lektion.

Falls es für Ihr Thema, das Sie dutzende Male vortragen, noch keine gut aufbereitete Darstellung gibt, oder die bestehenden aus Lizenzgründen nicht in Frage kommen, sollten Sie sich fragen, warum Sie die Aufbereitung nicht einmal z.B. als Video erstellen, um sie ihren Lernenden vorab zur Verfügung zu stellen.

Werde ich dann als Lehrender nicht unwichtig? Was ist dann meine Rolle?

Das „Outsourcing“ der Inhaltsvermittlung gibt erst die Gelegenheit für intensive Lerner-Unterstützung zum Erarbeiten des Wissens oder Könnens, die eigentliche Kernaufgabe eines Trainings. Vielleicht ist es ja auch ganz heilsam, sich ausschließlich auf hilfreiche Dienstleistungen für Lerner zu konzentrieren. Dienstleistungen sind Angebote, die ein Interessent wählen – auch abwählen – kann. Der Begriff macht auch ein anderes hierarchisches Verständnis zwischen Lernenden und dem Dienstleister deutlich: Die Lernenden sind in der Entscheider-Position. Sie entscheiden, was für sie gerade passt, was sie benötigen  – und was nicht. Als guter Dienstleister macht man Angebote, von denen man glaubt, dass sie hilfreich sind.

Mögliche Dienstleistungen für Lernende:

  • Klärung / Bestimmung des persönlich passenden Zieles
  • Auswahl und Angebot empfehlenswerter Wege des Erarbeitens (Mehrere anbieten)
  • Zeit- und Meilensteinplan anregen
  • Vorauswahl und Zusammenstellen geeigneten Lernmaterials für das Thema (Alternativen anbieten)
  • Bilden und Pflegen von Lerner Communities
  • Kontakte zu Experten und Experten-Communities vermitteln
  • Führen eines ePortfolios anregen
  • Im Erarbeitungs-Prozess Feedback-Gelegenheiten anbieten (entweder mit Lern-Coach oder noch besser mit Experten)
  • „Trigger-Service“ anbieten (regelmäßige Online-Termine mit Statusberichten der Lernenden)
  • Bei inhaltlichen Schwierigkeiten sich selbst oder andere als Fach-Coach anbieten
  • Die Zielerreichung am Ende bestätigen

Bild eines autonom Lernenden

Nicht alle Lernenden brauchen alles. Erwachsene Lernende kennen sich meist ganz gut, und wissen ob sie z.B. den „Trigger-Service“ brauchen können. Das setzt ein Bild eines autonom Lernenden voraus. Üblicherweise realisieren wir bisher in Trainings und Seminaren eher die Vorstellung, den Prozess des Lernens zu gestalten. Dabei gehen Lehrende davon aus, relativ genau zu wissen, wie der optimale Lernweg für die Lernenden aussieht. Und die Lernenden haben sich damit auch arrangiert, schließlich können sie damit mit gutem Gewissen in die passivere Konsumenten-Rolle während des Trainings schlüpfen: „Ich bezahle dafür, dass Sie mich schlau machen“. Das Lernen so noch nie funktioniert hat, wollten auch wir Anbieter ja auch nicht wirklich wahrhaben.

Tatsächlich ist Lernen ein höchst individueller und aktiver Vorgang eines Lernenden. Jeder lernt anders, was spätestens klar wird, wenn man Lernen als Verbinden von Nervenzellen im Gehirn versteht. In jedem Gehirn verbinden sich andere Nervenzellen, je nach Vor-Erfahrungen und persönlichen Ziel-Interessen. Niemand lernt gleich – keiner lernt das Gleiche!

Damit wirkt die Vorstellung schon anmaßend, jemand anderes könnte diesen Lernprozess steuern. Dieser Prozess ist so individuell, dass er (wenn überhaupt) nur vom Lernenden gesteuert werden kann. Da das Bilden von Synapsen im Gehirn kein bewusster Vorgang ist, sollten wird vielleicht gar nicht von Lern-Prozess-Gestaltung reden, besser von der Zielerreichung und vom Weg dahin. Lerner „erarbeiten“ sich ihr Wissen und Können, ist aus meiner Sicht eine treffendere Vorstellung.

Eine gute theoretische Untermauerung für ein solches Lernenden-Bild gibt die Ermöglichungsdidaktik von Prof. Rolf Arnold  . Leider gibt es dazu nicht viel frei zugängliche Dokumente im Internet, dafür aber eine große Literaturliste.

Lern-Event = Content + Lerner Services

Mit gut aufbereitetem Content ist auch das selbständige autodidaktische Lernen möglich. Das ist nicht neu, wird vermutlich aber zunehmen mit mehr verfügbarem Lehrmaterial. Der Mehrwert eines Trainings, Seminares oder jeder anderen Lern-Veranstaltung entsteht aus hilfreichen Dienstleistungen für Lernende. Heute wird es möglich, sich sogar ausschließlich auf diese Lerner-Dienstleistungen zu konzentrieren, weil gut aufbereitete Inhalte für Lernende zugänglich sind. Und falls Ihre Inhalte noch nicht dabei sind: Warum nehmen Sie Ihre Inhalts-Darstellung nicht einmal gut aufbereitet auf, statt sie in jedem Training immer wieder von Neuem zu entwickeln? Das spart Zeit, die Sie für die Unterstützung Ihrer Lernenden verwenden können. Einen eindrucksvollen Beweis für den Vorzug von Video-Aufzeichnungen gegenüber der Präsenz-Darstellung hat Sebastian Thrun bei seiner legendären letzten Vorlesung als Stanford-Professor erhalten. Seine mit etwa 200 Studenten besetzte Vorlesung hatte er im letzten Jahr zusätzlich ins Internet gestellt. (Dort erreichte er 160.000 Lernende weltweit.) Im Laufe des Semesters kamen immer weniger Studenten in seine Vorlesung. Er fragte seine Studenten, warum sie fernblieben, sie zahlten doch viel Geld für das Präsenz-Studium in Stanford. Die Antwort: Das aufgezeichnete Video ist besser zum Lernen, man kann stoppen und auch mal wiederholen. Hier der Link zu einem Vortrag von Sebastian Thrun zu seinen Erfahrungen damit.

Das ist Blended Learning?

So neu ist das gar nicht, nur sehr konsequent angewandt, und mit einem deutlichen Unterschied zu bisherigen Lern-Arrangements: Die  Inhaltsvermittlung wird vollständig über Medien transportiert. Und für die persönliche Erarbeitung des Stoffes werden verschiedene Dienstleistungen angeboten, die in einem Präsenz-Treffen – aber auch über einen längeren Zeitraum – vom Lerner gewählt werden können.

Damit verändert sich unser Bild von Lernen und wir werten gleichzeitig die Lernenden auf. Unsere Rolle der ehemals Lehrenden wird durch die Trennung von Content-Vermittlung und Lerner-Unterstützung neu definiert. Wir können den Rollen-Wandel aber aktiv mitgestalten.

Eine gute Möglichkeit der aktiven Mitgestaltung von Lerner Services ist das CorporateLearningCamp von HESSENMETALL am 28./29.09.2012 in Frankfurt M. Ich werde dort mindestens eine Session dazu anbieten. Mehr zu Lerner Services demnächst auch hier in diesem Blog.

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