Die aus meiner Sicht sehr notwendige öffentliche Diskussion über unser Bildungssystem hält nun schon einige Zeit an, ohne dass sich irgendwie klare Meinungen oder erkennbaren Tendenzen zu Verbesserungen dieses Systems abzeichnen. Einig ist man sich wohl nur darin, dass sich etwas ändern muss. Möglicherweise liegt das ja auch am Bildungsbegriff, der vermutlich sehr unterschiedliche Vorstellungen erzeugt.
Schon vor einiger Zeit habe ich ein interessantes Video-Interview von Lutz Berger mit Martin Lindner gefunden, in dem Martin Lindner etwa von Minute 17 bis Minute 20 eine aus meiner Sicht sehr schöne Erklärung abgibt zum Bildungsbegriff. Die wichtigsten Passagen daraus möchte ich hier weitgehend wörtlich zitieren:
Martin Lindner zu Bildung: „Das Thema zuckt: Das Wort Bildung scheint irgendwas zu bezeichnen, das alle für wichtig halten – mit dem Problem, das nicht wirklich klar ist, was Bildung eigentlich sein soll. Also man spricht immer nur darüber, dass Bildung wichtig ist. Da steckt irgendein versteckter Begriff drin, den man erst herausholen müsste, den die Leute dabei zu Grunde legen – aber der ist mir selber auch nicht klar.“
Martin Lindner beschreibt damit aus meiner Sicht sehr treffend, die schwierige Situation. Wenn nicht klar ist, was man eigentlich meint, dann ist es praktisch unmöglich einen gesellschaftlichen Konsens für zielgerichtete Veränderungen zu finden. Auf die Frage, wie er denn Bildung definieren würde, antwortet Martin Lindner:
„Bildung würde an dieser Stelle erstmal „sich bilden“ heißen. Also man muss sich erst mal klar machen, dass Bildung, so wie wir es gewohnt sind zu verwenden, ja eine Art abgeschlossenes, letztlich von oben geleitetes Unternehmen ist. Bildung ist sozusagen etwas, was man erhält, um das man nachsucht, und das einem dann gewährt wird. „Sich bilden“ – und das ist die eigentliche Bedeutung des deutschen idealistischen Bildungsbegriffs, der auf Goethe zurückgeht und auf Goethes Zeitgenossen, da geht es um „sich“ bilden. Also tatsächlich um Individuen, die ihre natürlichen Anlagen, die in ihnen schlummern „ausbilden“. Das ist die ursprüngliche Bedeutung, also etwas Dynamisches, etwas entfalten, was schon da ist, und zwar von innen nach außen, von unten nach oben. Und das ist im Bildungsbegriff ja komplett verloren gegangen. Da kommen wir wieder hin. Also, so gesehen gefällt mir der alte deutsche Bildungsbegriff eigentlich nicht schlecht, da steckt schon Einiges drin, was man wieder brauchen kann.“
Das entspricht auch meinem Verständnis: Bildung entsteht durch aktives Erarbeiten, Beschäftigen mit …, Ausprobieren von …, und in vielen Gesprächen mit Anderen. Bildung ist sozusagen das Ergebnis von persönlich gemachten Erfahrungen, von eigener Aktivität. Wenn das vom Interesse des Einzelnen geleitet wird, führt das i.d.R. auch zu effektiven Ergebnissen. Und „Lernen“ läuft dann so nebenbei ab, das es der „Lerner“ gar nicht bemerkt.
Nun haben wir in den Bildungsinstitutionen aber immer die Idee, alle müssten einen bestimmten gleichen Level erreichen. Das sieht nach einer internen Optimierung des Prüfungsbetriebes aus: Wenn alle am gleichen Ergebnis gemessen werden, lässt es sich natürlich einfacher bewerten. Und schon wird Lernen zur unangenehmen anstrengenden Pflicht, in die man sich fügt, nur um den „Schein“ zu bekommen.
Wir sollten uns fragen, ob es denn in einer Welt, die eine so stark wachsende Bandbreite von Wissen anbietet, noch gut und richtig ist, Bildungsabschlüsse nur zu vergeben, wenn die stark eingeschränkten Bedingungen der „Lehrenden“ erfüllt werden. Ob wir damit nicht ganz viel Potential vergeuden, dass sich viel großartiger entfalten würde, wenn es mehr darum ginge, dem Individuum bei der Ausprägung seiner „schlummernden“ Talente (s.o.) zu helfen.
In dem Zusammenhang ist eine weitere Passage des Interviews mit Martin Lindner interessant:
Frage von Lutz Berger: „Und der Privatlehrer wurde sozusagen durch das Web abgelöst?“
Martin Lindner: „Das private Sich-Bilden, das früher in Bibliotheken stattfand – für mich auch – Das Sensationelle war ja, das man in Bibliotheken gehen konnten, wo ja unendlich viel Wissen aufgebaut war.
Dafür haben wir jetzt das Web. Was das Web hinzufügt, ist die Kommunikation, der Austausch. Ein „Buch-Mensch“ früher war halt allein, musste allein sein. Jemand der in seinen Computer starrt, ist auch allein, aber jetzt haben wir mit dem Web 2.0 den paradoxen Fall, dass man sehr allein in seinen Computer starrt, und da drin unglaubliche soziale Dinge passieren – wie eben jetzt gerade in diesem Interview.“
Also, die Themen
– Was ist Bildung?
– Was sollten / müssen wir da eigentlich messen?
– Wie gestalten wir Umgebungen, die individuelle Entwicklungs-Prozesse unterstützen?
sind aus meiner Sicht die zentralen Themen mit denen wir uns – noch immer – auseinandersetzen müssen. Das Video Interview von Lutz Berger mit Martin Lindner gibt dafür noch viel mehr Anregungen.
3 Gedanken zu „Was ist eigentlich Bildung?“