Das Buch mit dem verstörenden Titel von John Erpenbeck und Werner Sauter will wachrütteln. So wie Georg Picht 1965 mit dem ähnlichen Titel „Die deutsche Bildungskatastrophe“. In unseren Bildungsinstitutionen ist das Ziel kompetent handeln zu können verloren gegangen. Der Vergleichbarkeit halber misst man, wieviel Wissen wiedergegeben werden kann. Dabei ist Wissen nur eine Voraussetzung für kompetentes Handeln. Ohne es selbst getan zu haben, erwirbt man keine Kompetenz. Selbständig handeln können ist aber das eigentliche Ziel von Bildung, erst recht von Aus- und Weiterbildung. Das mahnen John Erpenbeck und Werner Sauter hier deutlich an und fordern eine grundlegend andere Ausrichtung unserer Bildungs-Organisationen.
Der Kompetenzbegriff wird viel benutzt in Bildungsdiskussionen – und auch missbraucht, wie die Autoren am Beispiel PISA deutlich machen. Mit Multiple-Choice-Tests kann man Kompetenzen gar nicht erfassen. „Der Moderne Kompetenzbegriff erfasst die menschlichen Fähigkeiten in offenen Situationen selbstorganisiert und kreativ zu handeln. Der so gefasste Kompetenzbegriff ist der Moderne Bildungsbegriff.“ So die Definition der Autoren.
Man kann Kompetenzen auch nicht vermitteln. Die muss sich jeder selbst erarbeiten. Dazu gehört in jedem Fall das Erleben des eigenen Handelns, das – wie sich die Autoren ausdrücken – durch Emotionen zu „imprägniertem“ Erfahrungswissen wird. Das Erarbeiten von Kompetenz erfordert eigene Aktivität der Lernenden, oder anders ausgedrückt: Selbstgesteuertes Lernen.
Wenn also Handlungs-Kompetenz statt Wiedergabe von Wissen das Ziel von Bildung werden soll, dann bedeutet das eine völlig andere Ausrichtung und Gestaltung von Lern-Situationen. Die Gestaltung von Lernprozessen für Lernende ist dann ein untauglicher Weg (wenn er überhaupt jemals tauglich war). Bei der Kompetenz-Bildung geht es um die Gestaltung von förderlichen Rahmenbedingungen und Lernumgebungen (von Kompetenzzielen über Inhalte bis zu Communities), die Lernende nutzen können, wenn sie sie für hilfreich empfinden. Auf Rolf Arnolds „Ermöglichungs-Didaktik“ weisen die Autoren deshalb an verschiedenen Stellen hin.
Wer selbstgesteuert lernt, braucht aber trotzdem Rückmeldungen, spätestens die Bestätigung das Kompetenzziel erreicht zu haben. Zur Kompetenzmessung, die ja nur am echten Handeln der Person ablesbar sein kann, sind im Buch noch nicht viele Hinweise enthalten. In der betrieblichen Weiterbildung scheint das einfacher. Hier lässt sich erworbene Kompetenz an der Erledigung der Job-Herausforderungen ablesen. Wenn Arbeiten und Lernen verschmelzen, also die willkürlich eingeführte Trennung von beiden wieder aufgehoben wird, ist Kompetenzentwicklung ein ganz natürlicher Prozess in jedem Job. Die 70-20-10-Regel bestätigt ja, dass ohnehin schon 90% des betrieblichen Lernens informell und selbstgesteuert am Arbeitsplatz geschieht. Die meisten beruflichen Kompetenzen werden also schon selbständig und selbstgesteuert erarbeitet. Üblich werden müsste nur noch das Vergleichbar machen von Kompetenzen, das normierte Messen.
„Erfolgreiche Kompetenzentwicklung setzt Eigenverantwortung und Selbstorganisation, Lernen in realen Herausforderungssituationen sowie die Anwendung und Bewährung in der eigenen Lebenswelt voraus.“ Damit umreißen die Autoren ihre Gestaltungsvorstellungen von Lernsituationen. Das klingt nicht nach speziellen Gebäuden und auch nicht nach weisen Lehrenden. Das weist den Lernenden einen wertigen Platz zu, traut ihnen zu, es auch allein zu schaffen. Wenn es nicht mehr nur um Wissen geht, dann ist die hierarchische Distanz zwischen „Wissenden“ und „Unwissenden“ auch nicht mehr sinnvoll. Wohl aber die Einbettung ins Netzwerk der Könnenden, von denen man sich Tipps und Feedbacks holen kann. Die Wichtigkeit von Netzwerken fürs Lernen betonen die Autoren deshalb ebenfalls.
Im Buch finden sich viele pointierte Beschreibungen aktueller Zustände in Schule, Hochschule und Weiterbildung, die die Veränderungsnotwendigkeit unterstreichen sollen. Hier eine kleine Auswahl:
Zu Hochschulen:
„Kompetenzen erwachsen aus dieser studentischen Datenvorratsspeicherung in der Regel nicht. Kompetenzen erwerben Studenten erst wenn sie im realen Berufsprozessen stehen und das Wissen zu deren besserer Bewältigung wirklich dringend benötigen … .“
Zu Schulen:
„Die „quadratische Kiste“, in der der Lehrer den Raum dominiert, genügt nicht den Ansprüchen selbstorganisierten, erlebnisorientierten Lernens. Neben Cafeteria und Aula werden Klassenzimmer, Gruppenräume, Arbeitsbereiche für Schüler und Lerntandems sowie Freiluftbereiche benötigt.“
„Der Tagesablauf wird, wie seit über 100 Jahren, immer noch in 45-minütige Unterrichtsstunden eingeteilt, die jede größere pädagogische Innovation verhindern. Die Schulen bieten unzählige Einzelfächer an, anstatt wenige herausfordernde Projekte, in denen eine Problemstellung aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchtet wird.“
Zu Fernlehrinstituten:
„Wenn man davon ausgeht, dass man die Inhalte der Fernstudien Briefe, etwa in der Betriebswirtschaftslehre, in mindestens gleicher Qualität auch in guten Fachbüchern im Gesamtpreis von maximal 200 € lesen könnte, stellt sich die Frage, was den Mehrwert von bis zu 2500 € pro Kurs ausmacht. Sind die Einführungshefte, die oberflächliche Korrektur von Einsendeaufgaben, und die Abnahme der Prüfung wirklich so viel Geld wert?“
Zu betrieblicher Weiterbildung:
Viele Bildungsplaner haben die Sorge, dass sie ihre Gestaltungsmöglichkeiten verlieren, wenn die Verantwortung für die Lernprozesse auf die Lerner übergeht. Dieses Problem kennen wir … wenn Führungskräfte Verantwortung delegieren sollen. Es ist richtig, Bildungsplaner, die Lernverantwortung an die Mitarbeiter und Führungskräfte weitergeben, können nicht mehr direkt in die Lernprozesse eingreifen.“
Mein Fazit:
Mit dem Weckruf „Stoppt die Kompetenzkatastrophe“ stecken die Autoren den Finger in die vielen Wunden unserer vielen „Belehrungssysteme“ die zu „Ermöglichungssystemen“ werden müssen. Von Schule über die Hochschule bis zur Weiterbildung werden in gutem Glauben unentwegt Lernprozesse für Zielgruppen gestaltet. Tatsächlich kommen aber ganz unterschiedliche Individuen, mit ganz unterschiedlichen Voraussetzungen und persönlichen Zielen. Und die wollen eigentlich Handlungskompetent werden für den Job, für ihr Leben. Wir lenken die ganze Aufmerksamkeit und die ganze Energie von Lernenden auf das Wiedergeben von Wissen – weil das einfacher zu prüfen ist. Das eigentlich benötigte Ziel selbständig handelnder Menschen, haben wir aus den Augen verloren. Die brauchen wir in Zeiten von Globalisierung und Digitalisierung aber mehr denn je. Und wenn Kompetenz ohnehin nur selbst erarbeitet werden kann, dann braucht es anleitende Lehrende ja auch nicht mehr. Wohl aber Lernbegleiter und Rahmengestalter, die Lernenden hilfreiche Unterstützung anbieten bei ihrer selbständigen Kompetenzentwicklung. Das klingt wie ein Frontalangriff auf unser Bildungssystem. Dieses Buch ruft zum Angriff auf. Lesenswert!
Wasser predigen und Wein trinken, heißt hier wohl die Devise.
Oder soll das jetzt eine öffentliche Selbstschälte sein?
Beide Autoren sind als Studienbriefschreiber in einem Fernstudium fest eingebunden und Erpbenbeck spielt sogar einen Fachleiter.
Hat dies auf teaching knowledge and creativity rebloggt.
Das Buch soll gelesen werden. Es gibt eine weitere Perspektive, die speziell beim digitalen Lernen mit Devices eine Rolle spielt.